Der Geisterrechner

Rechnen beim Schwimmen kann mühsam sein. Diesen Sommer war ich viel im Freiwasser unterwegs (ohnehin die schönste Variante der Schwimmerei). Im Fluss oder See war meine kleinste Maßeinheit 500 Meter, auf diese Distanz hatte ich den Alarm der Uhr gestellt. Jetzt sollte ich plötzlich in einem überfüllten 25-Meter Becken 24 Stunden schwimmen. Ok, 24 Stunden war eine schamlose Übertreibung. Mein Plan war, am späten Nachmittag im Hallenbad in Bissingen aufzukreuzen und ein paar Runden zu schwimmen, wenn alles gut ginge, bis zum Morgengrauen. Mindestens wollte ich meine längste Strecke im Becken, 5000 Meter, überbieten. Um 14 Uhr warf ich zwei Brötchen ein und legte mich eine Stunde auf die Couch. Danach ein Kaffee, ein bisschen Tasche packen und los gings. Ich hatte eine Hand voll Riegel und zwei Flaschen Apfelschorle mit, Schwimmzeug, Bademantel, Trainingshose und eine Isomatte. Im Bad war bereits highlife.

Hallenbad Bissingen

Seit 14 Uhr war der Start frei gegeben und jetzt, um 17 Uhr, waren alle Bahnen knallevoll. Auf der Schwimmerbahn 1 kämpften sich einige Krauler durch eine Horde Brustschwimmer. Man muss dazu sagen, dass die Veranstaltung ausdrücklich als Spaß- und Breitensportevent angekündigt war, deashalb durfte man das nicht so eng sehen. Ich deponierte mein Material beim leeren Planschbecken, in dem andere Leute bereits ein expeditionsmäßiges Basislager aufgeschlagen hatten. Da kam auch schon Ronnie vorbei, den ich bislang nur virtuell gekannt hatte. Dank meiner schicken Aquadeus-Hose, die ich vorher noch ins Netz gestellt hatte, erkannte er mich sofort.

Hose

Nach einem kurzen Plausch startete ich zur ersten Runde. Am Bahnende holte ich mir eine numerierte Kappe, gab meine Strichliste einem Bahnenzähler und stieg ins Wasser. Trotz des Trubels kam ich zügig voran. Mittlerweile waren nur noch zwei Brustschwimmer unterwegs, dicht hintereinander, die man im Doppelpack schön überholen konnte. Eng wurde es nur, wenn sich zwei Überholer im Gegenverkehr begegneten. Alle 50 Meter kam ich an der Wanduhr vorbei und musse mich zusammenreißen, nicht jedes Mal hoch zu schielen. Gezählt habe ich nicht, das überließ ich dem offiziellen Strichlistenführer und hilfsweise meinem Forerunner. Ich hatte mich bald in einem gemächlichen Rhythmus eingefunden. Nach einer knappen Stunde spürte ich erste Ermüdungserscheinungen. Eine Weile überlegte ich, die erste Runde auf 2 Stunden aus zu dehnen, hatte aber Angst, dass ich mich damit noch am späten Nachmittag abschießen würde und beendete die Session nach einer guten Stunde und mit 3000 Metern auf dem Konto.

Die erste Minute am Beckenrand stand ich noch verknittert in der Landschaft. Die operative Entfernung von Schwimmbrille und Badekappe sorgte für erhebliche Erleichterung und eine heiße Dusche machte mich fit für die Pause. Ich setzte mich auf eine Bank, knabberte meinen ersten Riegel und beobachtete in Ruhe die Umgebung und die Leute. Nach einer knappen Stunde fühlte ich mich fit genug zum Weitermachen. Mittlerweile war auch Fadel angekommen und kurz nacheinander stiegen wir ins Wasser.

Fadel

Diesmal merkte ich die Vorbelastung, sowohl in den Schultern als auch im Kopf. Im Vorbeischwimmen bat ich Fadel, mir eine Flasche an den Beckenrand zu stellen. Die erste Stunde war ich noch ohne Zwischenverpflegung durchgekommen, jetzt legte ich ab und zu einen Boxenstop ein.  Trotzdem beendete ich den Durchgang bereits nach 2000 Metern. Das erste Ziel, die 5 zu egalisieren, war erreicht.

Inzwischen kannte man die Leute, die längere Zeit unterwegs waren und unterhielt sich in den Pausen miteinander. Fadel, der erst seit kurzem krault und hier zum ersten Mal Strecke machte, bekam reichlich Tips und schwamm am Schluss deutlich hübscher als zu Anfang (hat aber noch Potential). Ich musste inzwischen einsehen, dass meine Futterstrategie wenig durchdacht war. Meine Schorle war schon lange zu Ende und ich füllte die Flaschen am Wasserhahn auf. Das wenige Bargeld, das ich mitgebracht hatte, war für Startgeld und Schrankpfand drauf gegangen. Am Müsliriegel knabbernd schielte ich gierig zu den Jungs hinüber, die sich belegte Brötchen reinschoben. Die Schinkensemmel vom Frankfurt Marathon und ihr Mysterium halten sich eisern auf Platz Eins meiner Lieblings-Psychosen… Zum Glück half Ronnie mit einer Cola aus, die er für mich am Beckenrand deponierte. In der dritten Runde machte ich wieder Boden gut, wenn auch das Tempo deutlich nachgelassen hatte. Ich schwamm inzwischen Viererzug. Bei der niederschwelligen Anstrengung reichte das bisschen Luft locker aus, dafür lag ich so viel ruhiger im Wasser. Einer meiner vielen Technikfehler ist nämlich ein übermäßiges Aufdrehen beim Einatmen. Dazu bemühte mich um bewusste Lockerung der Arme in der Überwasser-Phase und hatte auch den Eindruck, dass die Schultern jetzt weniger jammerten als zuvor. Der einzige Wermutstropfen: ich war jetzt der Langsamste auf der Bahn und wurde permanent von kleinen und großen Mädchen überrundet. Von Jungs auch. Weitere 3000 Meter in 75 Minuten konnte ich so zu Ende bringen und war damit in der Größenordnung meiner längsten je an einem Tag geschwommenen Strecke angekommen. Über Grund war ich zwar im Regen 12 Kilometer geschwommen, hatte aber überschlägig ausgerechnet, dass vier davon auf das Konto der Strömung gegangen waren. Ich rollte meine Isomatte aus und legte mich eine Weile hin. Das brachte zwar Erholung, aber keinen Schlaf. Und das war nicht mal die Schuld der Schulklasse, die plötzlich neben mir auftauchte und sich lautstark unterhielt. Aus Sorge, die könnten auf mich drauftreten, rückte ich näher an das junge Mädchen, das nebenan auf seiner Matte ausruhte. Ich überlegte noch, ob ich darauf hinweisen solle, dass ich nix tue, beschloss aber, unauffällig zu bleiben. „Ich will nur spielen“ wäre gar nicht gegangen.

Nach einer Weile in der Horizontalen setzte ich mich wieder zu Ronnie und Fadel. Fadel musste langsam nach hause, Ronnie wollte noch auf 15 aufstocken. Ich selbst definierte „die 10 und dann mal sehen“ als nächstes Ziel. Um 23:15 Uhr stieg ich wieder ins Wasser. Diesmal hatte ich eine perfekte Gruppe erwischt, die schnellen Leute waren grade draußen und die Hand voll Schwimmer waren annähernd in meinem Tempo unterwegs. Ronnies Cola kam mir jetzt zu Pass. Punkt Mitternacht hatte ich die 10 km voll. Ich machte noch die Stunde voll und hatte am Ende 10.650 Meter zurück gelegt. Damit ließ ich es gut sein. Ich fühlte mich extrem erschöpft, hatte auch Angst, die Schultergelenke zu überbeanspruchen. Die Schwimmbrille drückte trotz Weichgummirand schmerzhaft aufs Gesicht und saugte mir gleichzeitig die Augäpfel aus den Höhlen. Das Chlorwasser setzte meinem Hals zu. Ausreden genug zum Aufhören hatte ich also. Zumindest hatte ich keine Wadenkrämpfe (die sonst zuverlässig bei 2735 Metern einsetzen).

Ein letztes Mal genoss ich die heiße Dusche und ging mein Geraffel aufklauben. Dabei hörte ich ein junges Mädel zu einem anderen sagen, wie schwer das doch für Leute über 50 sei. Ich wollte ihr schon einen Vortrag über das AGG mit 47 Seiten Powerpoint an den Kopf werfen, fragte aber vorsichtshalber, was sie denn meine. „Das Lebensalter in Kilometern schwimmen“ war die Antwort. Da konnte ich dann auch nicht widersprechen. Ich musste sogar zugeben, dass das mit Laufen schon kaum möglich sei, jedenfalls für mich. Ich wollte dann noch damit kokettieren, dass ich jetzt fast ein Fünftel meines Alters geschwommen habe, also gut 1o Prozent. Nein, ein Zehntel. Oder waren es zwanzig Prozent? Ich einigte mich mit mir darauf, dass Männer über 50, auch wenn sie nur einen Teil ihres Alters geschwommen haben, zur Geisterstunde nicht mehr rechnen können.

Im Foyer tauschte ich meine Schrankmarke gegen die 10 Euro Pfand und bestellte mir einen Kaffee und zwei Stück Kuchen. Auf EINEM Teller. Christian weiß, was ich meine.

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Über Günter

Manager und Triathlet
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5 Antworten zu Der Geisterrechner

  1. christian schreibt:

    Ich kann bestätigen, ich weiß genau, was er meint. Ist ein alter Brauch, der nur noch von wenigen aufrechterhalten wird. Gratulation zu den 10 km, schafft nicht mal mein Moped auf Anhieb.

  2. christianshanghai schreibt:

    Yes, ich weiß, was er meint. Ist ein alter heidnischer Brauch, nur ganz wenigen geläufig. Glückwunsch zu den 10k, schafft mein Moped nicht jedesmal.

  3. Steffen schreibt:

    Hi Günther, wusste gar nicht , dass man so viel über ein 24h Schwimmen schreiben kann. Kommste beim nächsten Mal zum 24h Bottwartal Schwimmen im Oberstenfelder Freibad (Juli) – da geht’s in frischer Luft zur Sache – und wenig Betrieb, ab 4.30 Uhr…. ! Gruß Steffen

  4. Pingback: Endlich Warmduscher! | Modou Fall

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